Diese Rede von Wong Shun Leung beschreibt das Ving Tsun, das ich an der
Kung-Fu-Schule in Berlin unterrichte:
Die Art zu kämpfen, über die ich hier sprechen will, ist nicht jene, die man im Boxring beobachten kann. Diese Art Kampf ist durch eine Vielzahl von Regeln eingeschränkt und wandelt sich schrittweise zu einer Form von Sport, die keine wirkliche Ähnlichkeit mit realistischem Kampf mehr hat.
Worüber ich hier sprechen will, ist der „wirkliche Kampf‘, die Art von Kampf, die vollkommen uneingeschränkt und unbegrenzt ist, sei es durch Konflikt oder beiderseitige Übereinkunft. Diese Art Kampf ist von besonderer Art. Alles steht auf dem Spiel. Man kann keinen konstanten Faktor voraussetzen; deshalb beeinflussen die körperlichen Voraussetzungen beider Gegner direkt den Ausgang des Kampfes. Die alte chinesische Schrift „Strategien“ drückt es gut aus: „Beurteile zuerst und kämpfe dann“ oder „Kämpfe erst und beurteile später.“ Das eine oder das andere kann seinen Gegenpart im Sinne von Ursache und Wirkung beeinflussen. In der Tat muss vieles diskutiert und gezeigt werden, wenn man über das Kämpfen spricht.
"Die Katze aus dem Sack lassen"'
Ob man die Aktionen des Gegners vorhersehen kann, spielt eine sehr wichtige Rolle dabei, wer einen Kampf gewinnt. Die alte chinesische Schrift „Strategien‘ sagt: „Schlage zu, wenn der Gegner auf halbem Wege ist.“ Jeder Angriff, der mit einem solch vorteilhaften strategischen Timing ausgeführt wird, erbringt die doppelte Ernte, da die Absichten, Pläne und Bewegungen des Gegners unter strenger Beobachtung stehen. Außerdem wird es einem Gegner, der auf halbem Wege seiner eigenen Aktion mit entsprechenden Gegenangriffen empfangen wird, schwerfallen, seine Bewegungen weiter zu koordinieren. Dadurch verliert er die Kontrolle und unausweichlich auch den Kampf. Allerdings begehen manche unerfahrene und schlechte Kampfkunst Praktizierende Fehler dieser Art immer wieder. Sie beginnen ihre Attacken lange bevor sie die entsprechende Distanz hergestellt haben und lassen einen großen Abstand zwischen sich und dem Gegner. Dieses Vorgehen ist höchst unklug und schädlich, denn es „lässt die Katze aus dem Sack“. Sie verraten dem Gegner unsere Geheimnisse. Sei also im Kampf niemals ungeduldig. Warte, bis der Gegner nur noch einen Schritt entfernt ist, bevor du plötzlich deine Angriffe beginnst. Dies nimmt dem Gegner jede Möglichkeit, selbst zu agieren.
Aufgrund des plötzlichen Angriffs aus kurzer Distanz kann der Gegner nicht rechtzeitig reagieren; deshalb wird er wahrscheinlich einen halben Schritt nach hinten oder zur Seite weichen. Dies macht es nur noch leichter für einen selbst, die Kontrolle über die Situation zu erlangen, da das Gleichgewicht des Gegners gestört ist. Versuche deshalb immer, den Gegner über deine Strategie im Unklaren zu lassen. Mache Dir keine Illusionen zu viele Illusionen oder zu hohe Erwartungen machen dich aufgeregt. Nach den Prinzipien des Kampfes sind wir zu 100% perfekt, wenn wir bestimmte oder alle Bewegungen korrekt ausführen können. Diese Situation existiert aber nur in der Theorie. Menschliche Wesen machen Fehler, niemand ist perfekt. In einer normalen Kampfsituation sind die Gegebenheiten auf beiden Seiten mehr oder weniger vergleichbar: Körpergewicht, Arme und Beine, Stärken und Schwächen und so weiter. Sie sind mehr oder minder ausgeglichen und deshalb vergleichbar. Der entscheidendste Faktor ist das Können, das beide Seiten jeweils besitzen. Nehmen wir einmal an, dass eine Chance von 70% besteht, einen Kampf zu gewinnen, so bleibt immer noch eine dreißigprozentige Wahrscheinlichkeit, einem Angriff ausgesetzt zu sein. Bei einer Boxweltmeisterschaft wird auch der Sieger eine Menge Treffer eingesteckt haben. Heutzutage kommen viele Kampfkunst- Lehrer mit einer Menge Hokuspokus daher. Sie erfinden viele nette Geschichten und Hirngespinste, um ihre Schüler irrezuführen. Sie narren sich selbst und andere. Es ist eine Schande. Wenn man aber das richtige physische und mentale Training hat und sich darüber im klaren ist, dass es normal ist, dass während eines Kampfes Schläge den eigenen Körper treffen, wird alles, was in einem Kampf passiert, nicht so verwirrend sein, dass es zur Niederlage führt. Ein Sieg wird wahrscheinlicher.
"Zögere nicht"
Um anzugreifen, müssen beide Seiten sich innerhalb der Kampfzone bzw. -reichweite befinden. Beide haben die gleichen Chancen, Angriffe zu starten. Während des Schlagabtausches hat man wenig Zeit, nachzudenken und abzuwägen. Durch routinemäßiges Training erworbenes Gefühl und Erfahrung kommen voll zur Anwendung. Sieg oder Niederlage werden davon bestimmt, was in einem steckt. Was aber auch immer passiert – zögere nicht. Zögern bringt einem eine Menge unnötige Schwierigkeiten ein. Die mehrfach hintereinander ausgeführten hohen Tritte, die wir in Filmen sehen, sind Produkte der Fantasie. In einer tatsächlichen Kampfsituation wird es der erste erfolgreich ausgeführte Tritt schwer oder unmöglich machen, den zweiten auszuführen. Gleich ob der Gegner fällt oder nicht, es wird kein Platz mehr da sein. Solange der Gegner nicht nach einem Treffer durch einen Rundkick nach hinten geht, sind die Chancen für anschließende Tritte nicht sehr hoch. Die Gesetze der Physik widersprechen solchen Möglichkeiten. Wenn der Gegner große Angst davor hat, getroffen zu werden und plötzlich nach hinten ausweicht, wird ein erfolgloser Tritt nur von einem ebenfalls erfolglosen Tritt gefolgt werden. Das Timing stimmt nicht. Dies ist wie beim Tanzen. Deshalb wird nur der angegriffen werden, der zögert. Vor- oder Zurückgehen, wenn es prompt ausgeführt wird, hilft dabei, Gelegenheiten zu ergreifen. All die oben aufgeführten Punkte sind nicht dazu gedacht, aus jemandem einen Sieger zu machen. Sie sollen helfen, Fehler zu vermeiden. Die wichtigsten Faktoren, die einen Kampf gewinnen helfen sind Beharrlichkeit im Training, Kampfgeist, Durchhaltevermögen, physische Stärke, Selbstvertrauen und so weiter. All diese Qualitäten machen den höchsten Grad an Harmonie und Frieden möglich.
Wong Shun Leung